Auf den ersten Blick wirkt Schmirgel wie irgendein dunkler Stein. Doch hinter dem matten Grau verbirgt sich ein Rohstoff, der einst für die gesamte Ägäis von Bedeutung war und Naxos sogar zu Weltruhm verhalf.
Schmirgel, auch als Emery bekannt, ist ein natürliches Schleifmittel mit einem hohen Anteil an Korund, einem der härtesten Minerale überhaupt. Seine abrasive Wirkung machte ihn seit der Antike zu einem begehrten Material, vor allem für den Feinschliff in der Metall- und Glasbearbeitung. Ob in Werkzeugfabriken oder Spiegelmanufakturen, über viele Jahrhunderte hinweg war griechischer Schmirgel ein Exportschlager.
Besonders auf Naxos fand man reiche Vorkommen, vor allem im bergigen Hinterland rund um die Dörfer Koronos, Apiranthos und Komiaki. Die Qualität des Schmirgels galt als außergewöhnlich gut. Ganze Familien lebten über Generationen hinweg vom Abbau, Transport und Handel mit dem dunklen, staubigen Gestein.
Die Seilbahn von Naxos entsteht – Eine Pionierleistung auf der Insel
Viele auch tödliche Unfälle sowie die Weiterentwicklung der Technik sorgten dafür, dass man sich von Seiten der Verantwortlichen um eine bessere und sicherere Art des Transportes Gedanken machte.
Planung & Bau der Seilbahntrasse
Als in den 1920er Jahren die Nachfrage nach natürlichem Schmirgel zunahm, wurde klar: Der mühselige Transport per Maultier reichte nicht mehr aus. Die griechische Regierung und private Investoren beschlossen den Bau einer Seilbahn, wie es sie bis dahin auf keiner der Ägäis-Inseln gab. Sie stellte eine technische Meisterleistung in ihrer Zeit dar.
Zwischen 1920 und 1926 entstanden die ersten Planungen und Erdarbeiten. Die Strecke sollte die Schmirgelminen rund um Koronos und Apiranthos mit dem kleinen Küstenort Moutsouna verbinden. Sie sollte nach ihrer Fertigstellung das logistische Rückgrat für den Export bilden. 1930 wurde die Schmirgelbahn schließlich offiziell in Betrieb genommen.
Die Trasse war etwa neun Kilometer lang, überwand 700 Höhenmeter und bestand aus 72 Masten, von denen manche über 40 Meter hoch waren. Entlang der Strecke lagen fünf Verladestationen, darunter Pesoúles, Pigí und Aspalathropós. Bis zu 170 Loren waren gleichzeitig im Einsatz. Sie hingen an den Tragseilen wie eine Perlenschnur in der Luft und transportierten jeweils 300 Kilogramm Schmirgel.
Von Aufschwung und Abstieg – Das Ende der Seilbahn von Naxos
Was als technologische Revolution begann, verlor mit den Jahrzehnten an Bedeutung. Nicht nur wegen des natürlichen Alterns der Anlage, sondern vor allem durch wirtschaftliche Veränderungen.
In den 1970er-Jahren begannen sich synthetische Schleifmittel weltweit durchzusetzen. Sie waren billiger in der Herstellung, gleichmäßiger in der Qualität und konkurrenzlos effizient für die industrielle Großproduktionen. Damit sank die Nachfrage nach natürlichem Schmirgel rapide.
Gleichzeitig investierte man in die Infrastruktur von Naxos. Der Bau einer Asphaltstraße zu den Schmirgelminen ermöglichte ab den späten 1970er-Jahren den Einsatz von Lastwagen. Das war flexibler, wetterunabhängiger – und bedeutete das Ende der Seilbahn.
Der Betrieb auf der Strecke von Koronos wurde 1979 eingestellt, die Linie von Apiranthos folgte 1982. Damit war das große Kapitel der Schmirgelbahn nach mehr als 50 Jahren fast ununterbrochener Tätigkeit endgültig abgeschlossen.
Doch was blieb, ist mehr als nur Rost: Die Trasse und ihre Überreste prägen bis heute das Landschaftsbild im Osten von Naxos. Und die wenigen, die sie besuchen, spüren: Hier wurde Geschichte nicht nur geschrieben, sondern besonders in früheren Zeiten unter teilweise unmenschlich harten Bedingungen geschuftet.
Verlassene Orte erzählen – Spurensuche vor Ort
Eben noch ein Wunder der Technik, im nächsten Augenblick Alt-Eisen. Das letztendlich ist der Weg aller menschlichen Errungenschaften.
Das Gelände bei Lionas – Technikfragmente im Wind
Wer heute das ehemalige Betriebsareal bei Lionas besucht, braucht keine Karte, denn die rostige Seilbahn von Naxos weist den Weg. Die Trasse verläuft wie ein dünner Faden durch die Landschaft. Ihre Stützen und Maschinen wirken, als hätte man sie gestern erst verlassen. Doch bei näherem Hinsehen ist klar: Hier hat sich seit Jahrzehnten niemand mehr ernsthaft um den Erhalt gekümmert.
Das Gelände ist offen zugänglich, überwachsen, stellenweise eingefallen. Aber es hat eine fast meditative Ruhe. Die Gebäude, ein Gemisch aus Stein und Beton, stehen leer, das Glas der Fenster ist zerbrochen, die Türen fehlen, die Dächer sind halb eingefallen. Dennoch wirken die Mauern stabil, als würden sie sich trotzig gegen den Verfall stemmen.
Zwischen den Ruinen liegen die stummen Zeitzeugen: Verrostete Zahnräder, riesige Umlenkrollen, zerborstene Stahlträger. Technik, die früher täglich in Bewegung war, liegt heute still in der Mittagshitze.
Aber überall dazwischen finden sich Spuren von Leben. Eine alte Lampe. Ein herausgerissenes Fensterkreuz. Werkzeugreste. Nichts Spektakuläres, aber genug, um deine Vorstellungskraft zu wecken. Wie viele Männer haben hier geschuftet, geflucht, geschwitzt?
Natur trifft Maschine – Die Ästhetik des Verfalls
Ein besonderer Zauber geht von diesen Orten aus, einer, den man kaum erklären kann. Es ist nicht nur die Stille, sondern auch der Kontrast: Die Härte des Eisens gegen das Zarte der Pflanzen. Die Linien der Technik gegen die Wildheit der Natur.
Hier wächst Thymian zwischen Zahnrädern, Disteln ranken sich um verlassene Rollen. Die Sonne malt Schatten auf verrostete Träger. Es ist, als hätte sich die Zeit hier nicht einfach verlangsamt, sondern verabschiedet.
Und während vieles zerfällt, entsteht gleichzeitig etwas Neues: Ein Ort, der nicht mehr arbeitet, aber spricht. Ohne Worte, ohne Schilder, ohne Absperrungen.
Diese Ästhetik des Verfalls zieht Besucher magisch an. Sie kommen nicht aus Sensationslust, sondern aus Ehrfurcht und angezogen von der Magie, die solche Orte ausstrahlen. Vielleicht auch, weil sie uns daran erinnern, dass nichts für immer ist. Alles Menschliche oder vom Menschen Gemachte ist vergänglich. Und das ist genau der Reiz, den Lost Places versprühen.
Galerie – Spuren der Seilbahn von Naxos
Ein Ort wie dieser lässt sich kaum vollständig in Worte fassen. Es sind die kleinen Details, das Spiel von Licht und Rost, das Knirschen von Kies unter den Füßen, die Windstille zwischen den Masten, die diesen Reiz ausmachen.
Diese Galerie zeigt Eindrücke aus verschiedenen Blickwinkeln: Vom technischen Herz der Anlage über rostende Einzelteile bis hin zu den letzten verbliebenen Mauerresten. Hochformate, Details, Perspektiven, die ganz ohne Filter, ganz ohne Inszenierung für sich sprechen. Einfach so, wie der Ort sich zeigt.
Ein letzter Rundgang. Ein stilles Denkmal.






Fazit: Zwischen Technik und Zeit – Die Seilbahn von Naxos lebt weiter
Was bleibt, wenn der Mensch geht und die Technik schweigt?
Die Seilbahn von Naxos gibt eine leise, aber eindrucksvolle Antwort: Sie erzählt keine Heldengeschichte, sondern eine von Arbeit, Mühe, Wandel – und vom Loslassen.
Was einst als technische Meisterleistung gefeiert wurde, liegt heute verrostet in der Sonne. Und genau darin liegt ihre Kraft: Als Denkmal des Einfachen, des Vergänglichen, des Bleibenden. Wer sich darauf einlässt, entdeckt mehr als nur Maschinenreste. Er entdeckt ein Kapitel griechischer Industriegeschichte, eingebettet in eine karge, aber berührende Landschaft.
Warst du schon einmal an einem Lost Place wie diesem? Wie hat er auf dich gewirkt?
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